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AutorenbildErika Weller

Wie kommt der Hausschuh an den Fuß?

Warum gezielte neuromotorische Förderung in Kitas ein wesentlicher Beitrag zur Partizipation ist. Ein Fachartikel zur Motivation :-)


Jan sitzt in der Garderobe und kämpft, wie jeden Morgen, mit seinem Hausschuh. Was andere Kinder so nebenbei erledigen, ist für ihn eine tägliche Herausforderung. Jan ist ein ganz normales Kindergartenkind, kann aber nicht mit beiden Händen in Beugehaltung vor dem Körper koordiniert arbeiten. Da seine Hausschuhe etwas instabil sind, bräuchte er beide Hände, um sie über den Fuß zu ziehen.

„Platsch“! Wo Lena sitzt, ist Action. Das Glas fällt um, Gegenstände fallen auf den Boden, den mühevoll gebauten Turm von Anne hat sie unbeabsichtigt umgestoßen und gerade will wieder mal kein Kind mit ihr spielen, weil in ihrem Umfeld immer Dinge passieren, die das harmonische Spiel beenden.

Mika ist ein intelligentes Kind und immer in Bewegung. „Er hat Hummeln im Hintern“ kommentiert die Mutter sein unruhiges Verhalten. Sein Bewegungsdrang bezieht die anderen Kinder im Stuhlkreis mit ein. Es bedarf viel Anstrengung, das Angebot trotz der Störungen durchzuführen.


Wir verbringen viel Zeit mit den uns anvertrauten Kindern. Gemeinsam erleben wir, wie sie groß werden und die vielen gemeinsamen Erlebnisse verbinden uns. Es berührt uns emotional, wenn wir sehen, dass die kleinen Helden in ihrem Entwicklungsverlauf stecken bleiben und ihr Potenzial nicht entfalten können. Wir fühlen uns hilflos, wenn Eltern nicht auf unsere Hinweise zur Verbesserung der Situation reagieren und manchmal macht es uns auch mürbe, wenn wir keinen Entwicklungsprozess voranbringen können.

Warum die Zungenspitze im Ruhezustand oben liegt und wir deshalb gezielt motorisch fördern.

Bei jeder Problemstellung macht es Sinn, Ursache und Grund für das Problem wahrzunehmen. Die für uns wahrnehmbaren Schwierigkeiten sind oft nur die Spitze des Eisbergs und von daher nicht isoliert zu bewerten. Kinder mit Entwicklungsverzögerungen zeigen oft unreife Blickfolgebewegungen, die einen Blickkontakt, räumliches Sehen und die Augen-Hand-Koordination einschränken. Eine mangelnde Körperspannung ist oft mitverantwortlich, dass das Kind keinen Mundschluss hat und die Zunge nicht richtig positioniert ist. Wenn wir mangelnde Feinmotorik an den Händen bemerken, sollten wir auch die Schulterstabilität betrachten, und welche Möglichkeiten der Kraftdosierung das Kind hat. Je klarer unser Verständnis dieser Zusammenhänge ist, desto eher werden wir das Kind mit seinen Schwierigkeiten wahrnehmen. Dies schafft Empathie und fokussiert unsere Förderung am eigentlichen Problem.

Von Wurzeln und Flügeln. Der Blick aufs Fundament

Häuser brauchen ein sicheres Fundament, Pflanzen brauchen Wurzeln und Kinder brauchen Liebe, Geborgenheit und ausreichend Möglichkeiten, sich zu entwickeln. Seit Ende der 90er Jahre wissen wir um die Bedeutung der motorischen Bewegungsentwicklung für die Verarbeitung von Wahrnehmung und sensorischer Integration. Als konkretes Beispiel möchte ich die Augenmotorik nennen. Heutzutage wissen wir, dass die Fähigkeit zur Fixation und Blickfolgebewegungen durch das frühkindliche Spiel mit den Händen geübt wird[i]. Fällt dieses Training durch einen abweichenden Entwicklungsverlauf weg, muss das Kind mit einer unreifen (der Begriff „unreif“ wird in Abgrenzung zu einer Schädigung verwendet) Blickmotorik Alltagssituationen bewältigen. Im Fall von Lena kann eine unzureichende Tiefenwahrnehmung (Stereopsis) und eine mangelnde Augen-Hand-Koordination Ursache für ihre unkoordinierten Bewegungen sein.

Woher kommen diese Schwierigkeiten?

Diese Frage steht immer wieder im Raum und lassen sich nicht pauschal beantworten, da viele Faktoren den frühkindlichen Entwicklungsverlauf bestimmen und daher die Zuordnung nicht so einfach ist. Folgende Punkte sind aber sicher zu bedenken. Früher hatten Säuglinge meistens deutlich weniger Spielzeug und dies war einfacher gefertigt (Reduzierung der Reize). So konnte und musste das Kind mehr „selbsttätig“ agieren. (Eine Rassel hin und herschwingen statt Töne auf Knopfdruck). Das Kind wurde auf ein Fell oder eine Krabbeldecke gelegt. Hier ergaben sich mehr Möglichkeiten und Herausforderungen, selbst in Bewegung zu kommen. (Nach Spielzeug greifen, Bauchlage flach, Rückenlage flach, Robben, Drehung). Das Liegen in Schalen oder Wippen, Gehhilfen oder ähnliches bringen Kinder eher in eine passive Haltung und vermindern die freie Bewegungsentfaltung. Alte Kinderspiele und alte Haushaltsgeräte (Bohnenkurbel, Quirl, …) hatten einen hohen Förderwert. Gleichbleibende, elementare Bewegungsmuster wurden stundenlang wiederholt und so (nachträglich) verinnerlicht. Das Spiel mit vielen Kindern in altersgemischten Gruppen erhöhte die motorischen Kompetenzen der Kinder erheblich.

Nicht zu unterschätzen sind auch die erhöhten Anforderungen, die Kinder heutzutage bewältigen müssen. Viele Schwierigkeiten zeigen sich erst im Anforderungsprofil. Dies ist ein gesellschaftliches Problem, das ich an dieser Stelle nicht weiter erörtern möchte.

Die zweite Chance

Mit neuromotorischer Förderung trainieren wir den motorischen Entwicklungsverlauf des ersten Lebensjahres systematisch nach, um Kinder in physiologisch richtige Bewegungsmuster zu bringen und, verknüpft mit diesem Prozess, neurologische Verbesserungen hinsichtlich der Wahrnehmungsverarbeitung zu erreichen. Frau Prof. Dr. Bein-Wierzbinski konnte in ihrer wissenschaftlichen Arbeit[ii] nachweisen, dass auch mit einer späteren Förderung erhebliche Verbesserungen hinsichtlich der Verarbeitung der sensorischen Reize erzielt werden können. Diese Basisförderung hat den großen Vorteil, dass alle elementaren Bereiche nochmals bearbeitet werden und wir ein sicheres Fundament legen, auf dem sich alle weiteren Entwicklungsschritt ableiten. Das erspart nicht immer weitere Behandlungen am sichtbaren Problem, verkürzt aber die Behandlungszeit. Konkret benannt wird z.B. heutzutage bei kleinen Kindern eine gute logopädische Behandlung aus Mundmotorik und Ganzkörperübungen bestehen.


Nicht alles kann und muss delegiert werden. Niemand kann uns hindern, selbst tätig zu werden.

Selbsttätiges Handeln macht stark, weil wir nicht in der Hilflosigkeit stecken bleiben, sondern unsere Ressourcen aktivieren und so die Prozesse selbst mitgestalten. Unsere Energie kanalisiert sich in konstruktiven Ansätzen für eine erfolgreiche Bewältigung des Problems.

Was können wir tun?

Es gibt in unserem Bildungssystem keinen besseren Ort als die Kitas, in denen wir alle Kinder nachhaltig und präventiv mit Spiel und Spaß kindgemäß neuromotorisch fördern können.

Nehmen wir die Meilensteine im Entwicklungsverlauf eines Kindes im ersten Lebensjahr und beobachten die Kinder. Hierzu nutzen wir gewohnte Spiele und fokussieren unsere Aufmerksamkeit auf die Körperhaltung: Können die Kinder flach auf dem Bauch liegen oder drehen sie sich nach fünf Sekunden zur Seite? Können Kinder in Bauchlage den Ellbogen-Becken-Stütz einnehmen und hier mehr als 20 Sekunden verharren oder bemerken wir, dass die Schulterstabilität nicht ausreicht? Können die Kinder eine Hand isoliert anspannen? Können sich die Kinder in Rückenlage „einigeln“?

Unsere Beobachtungen motivieren uns, Spiele zu wählen, die grundlegende Bewegungsmuster fördern. Was uns beim Zähneputzen und Händewaschen schon in Fleisch und Blut übergegangen ist, gilt auch hier. Regelmäßige kurze Intervalle werden langfristig Früchte tragen. Wir müssen nur dranbleiben. Unsere Kenntnisse über den frühkindlichen Entwicklungsverlauf helfen uns, strukturiert von leicht nach schwer vorzugehen.

Wenn wir uns die Mühe machen, mit Fotos den Entwicklungsverlauf zu dokumentieren, haben wir einen wunderbaren Beitrag fürs Portfolio und eine gute Grundlage für konstruktive Elterngespräche.

Das Ziel

Der Gewinn ist für die betroffenen Kinder groß, weil sie Grundlagen für die Partizipation in unserem Bildungssystem bekommen. Neben der körperlichen Sicherheit wird sich die sensorische Integration parallel weiterentwickeln. Auch wir Erzieher*innen profitieren von dieser Förderung. Wir schaffen die nötigen Grundlagen, um unserem Bildungsauftrag nachzukommen. Darüber hinaus reduziert sich der Stress für uns deutlich, da Kinder mit mehr Selbstregulation sich im sozialen Umfeld sicherer und konfliktfreier bewegen. Jetzt kann Jan kann seine Hausschuhe selbst anziehen, Lena findet einfacher einen Spielpartner und Mika kann im Stuhlkreis am Angebot teilnehmen.


Erika Weller

Erzieherin, Entwicklungs- und Lerntherapeutin nach PäPKi®

Praxis für Lerntherapie

www.konzentrier-dich.de

[i] Bein-Wierzbinski, Wibke (2004): Räumlich-konstruktive Störungen bei Grundschulkindern: Eine Untersuchung über die Bedeutung des neuromotorischen Aufrichtungsprozesses für die Blickmotorik und räumlich konstruktives Darstellen sowie die Möglichkeiten der Entwicklungsförderung durch motorisches Training, 1. Aufl., Frankfurt am Main, Deutschland: Peter Lang. S. 88ff [ii] Bein-Wierzbinski, Wibke (2004): Räumlich-konstruktive Störungen bei Grundschulkindern: Eine Untersuchung über die Bedeutung des neuromotorischen Aufrichtungsprozesses für die Blickmotorik und räumlich konstruktives Darstellen sowie die Möglichkeiten der Entwicklungsförderung durch motorisches Training, 1. Aufl., Frankfurt am Main, Deutschland: Peter Lang.

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